Vom Greifen zum Begreifen – Montessoriprinzipien im Alltag

 

 

Heute hatte ich wieder Unterricht bei meinen Abiturienten. Es macht mir stets großen Spaß mit ihnen den „Abiturstoff“ zu bearbeiten. Eigentlich ist es aber nicht ausschließlich die Vermittlung von Wissen und deren Weitergabe, sondern zu einem großen Teil auch die Freude, die ich in mir verspüre, wenn wir uns zum Beispiel auf den Spuren Goethes befinden, wie zur Zeit in der Bearbeitung des „Faust I“ und dann – ganz plötzlich in einer Adaption bzw. einer spontanen Umsetzung ins Alltägliche stehen.

 

Gerade in der Lektürereihe der letzten Wochen ist genau das häufiger passiert. Wir schauen uns den inneren Seelenzustand der Hauptfigur des Faust an, seine Zerrissenheit, das Streben nach Vollkommenheit, seinem Wunsch nach Gleichstellung mit dem Überirdischen und seiner tiefen Sehnsucht nach emotionaler Verbundenheit mit der Welt.

 

Dann lesen wir von den zwei Seelen in seiner Brust und plötzlich, nach einer kurzen Stille, sagt eine Kollegiatin: „Ja, den Faust kann ich gut verstehen.“ Nach einem kurzen Moment des „Überrascht-seins“ schaue ich sie an und bitte sie, das genauer zu formulieren. Sie erzählt dann, dass es in ihrem Leben schon häufig dieses „Zerrissen-sein“ gegeben hat, dass man einen Wunsch und ein Ziel verfolgt, dann jedoch abgelenkt wird, vielleicht auch in die entgegengesetzte Richtung geht, vom Weg abkommt und manchmal nach einem Umweg wieder dort ankommt – verändert allerdings. Dies ist der Impuls für andere, zu erzählen, wie sie diesen Textauszug verstehen.

 

 

 

Ich beobachte das Geschehen und höre nur zu, ziehe mich zurück. Meine Deutschgruppe braucht mich nun nicht mehr als Tutor für Deutsch, sie unterrichten sich selbst, könnte man sagen – ich finde noch mehr tun sie, sie bilden sich, entwickeln Ideen, transportieren den Unterrichtsstoff in das Hier und Jetzt – ja sogar in ihr eigenes Leben und lernen dadurch weit mehr als ich ihnen jemals beibringen könnte: Sie nehmen eine Situation zum Anlass, zu reflektieren, sich zu fragen, was der Sinn all dessen ist und was es denn mit ihnen selbst zu tun hat.

 

 

 

Solche Momente sind Höhepunkte für mich in meinem „Lehrerinnen-sein“.

 

Ich möchte gar nicht viel vorgeben müssen, die Kinder und, hier am Kolleg, die jungen Erwachsenen nicht in Formen zwingen. Viel wichtiger ist es ihre Fähigkeiten im Denken zu schulen, anzuregen, Impulse zu geben oder zu ermöglichen, wie in dieser Stunde.

 

 

 

Oft fließt es dann weit besser, als mein erdachter Unterrichtsablauf – im Laufe der Jahre bin ich sehr flexibel geworden, im Umgang mit meinen Stundenplanungen. Sie sind nur ein Gerüst, können es auch nur sein, denn ich habe es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die alle verschieden sind. Sie sind alle anders, lernen und verstehen anders, haben unterschiedliche Stärken und Schwächen... alle sind verschieden und genau das macht es so spannend im Unterricht.

 

Zur Zeit kann ich genau das tun. Jedem den individuellen Weg zu zeigen. Das liegt natürlich an der Situation, dass ich nur 7 SchülerInnen in einer Gruppe habe – nicht etwa 30 von ihnen gerecht werden muss. Das ist ein schönes Lernen und es ist effektiv!

 

In meiner Zeit an verschiedenen Regelschulen habe ich diese Momente, wie oben beschrieben, auch erfahren – es waren weniger, da bin ich ehrlich, denn individuelle Förderung in einer Gruppe mit sehr vielen Kindern oder Jugendlichen ist schwer. Oft heißt das: Alle lernen das Gleiche, auf die gleiche Art und im gleichen Tempo!

 

Ein Unding – denn es widerspricht jeder Wertschätzung individueller Fähigkeiten. Das hat mich stets unzufrieden gemacht, aber es blieb mir oft nur, den SchülerInnen mehrere Wege anzubieten, den Stoff zu erlernen.

 

Hilfreich war für mich die Montessoripädagogik und deren Prinzipien. Ich habe viele aus meinem Studiengang für das Montessoridiplom mitgenommen, diese fest in meinen Unterrichtsstil integriert und mir zu eigen gemacht.

 

 

 

Dazu gehört zum Beispiel immer die vorbereitete Umgebung, egal ob beim Training mit meinen LEGAkids oder in der Schule. Ich bereite den Lernenden – im gegebenen Rahmen – einen Raum, z.B. Material, das sie mit allen Sinnen erfassen können; so hören wir uns einen Teil der Faustthematik als Hörbuch an; kreieren einen Vertrag auf einer großen Papierrolle zwischen Faust und Mephisto, der jetzt im Raum an der Wand hängt und vieles mehr.

 

 

 

Nicht alles ist möglich mit den Sinnen zu erfassen, aber vieles.

 

 

 

Gestern kam meiner kleiner Sohn am Nachmittag verzweifelt zu mir und fragte, ob ich ihm das Notenlesen beibringen könnte, er würde am nächsten Tag in Musik die Tonleitern aufschreiben können müssen.

 

 

 

Ich nahm meine Matheplättchen, etwas Blumendraht und dann haben wir Noten gelegt, auf die „Linien“ in die „Zwischenräume“, beschriftet und immer wieder wiederholt.

 

Und plötzlich merkte ich, dass mein Kleiner Spaß hatte, am Lernen, denn er konnte es nach kurzer Zeit alleine – sich herleiten, welche Note denn wie genannt wird. So kamen wir bis zu den Dur-Tonleitern mit vier Vorzeichen und er ging entspannt und gelöst in seine Musikstunde.

 

Ich habe ihm dabei nur die Umgebung so vorbereitet, dass er lernen konnte, was er brauchte.

 

 

 

So halte ich es eigentlich immer. Maria Montessori hat mal gesagt, dass nichts im Kopf sein könne, was nicht in der Hand war. Ich denke, dass das „BEGREIFEN“ ein großer Faktor beim Lernen ist. Oft denken wir Erwachsene das Wort nur im theoretischen Sinne, aber es ist ganz praktisch gemeint: Ich muss mit dem Umgehen können, was ich mir erschließen soll, es drehen und wenden, es von verschiedenen Seiten betrachten.

 

Manchmal kann ich das tun, einen Lerngegenstand auch wirklich handhaben, dann ist es einfacher zu erlernen, was es mit dieser Sache, mit diesem Zusammenhang, auf sich hat.

 

Oft kann ich meinen Lerninhalt nur theoretisch erfassen aber eben nicht anfassen. Dann ist das Drehen und Wenden und das von allen Seiten betrachten eher so gemeint, wie in der Fauststunde: Damit umgehen, die Zusammenhänge von verschiedenen Seiten anschauen, sich fragen, was das mit mir selbst macht. Dann „begreife“ ich im wahrsten Sinne des Wortes.

 

 

 

Und dann kommt man zu dem Punkt, an dem einer der Teilnehmenden am Ende sagt: „So habe ich das am Anfang der Stunde noch gar nicht sehen können, wie cool.“

 

Ein schöneres Geschenk kann eine Lehrende von einem Lernenden wohl nicht bekommen.

 

 

 

In diesem Sinne,

 

einen guten Tag und liebe Grüße,

 


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